Aufzeichnungen eines albernen Menschen

"Das kann ich verstehen", sagte ich. "Wirklich?", fragte er lächelnd. "Ich denke schon." "Und warum denkst du das, du Esel?" "Nun vielleicht weil ich annehme, du holst eine Leiche ab und sagst dir, solange ich noch nicht selbst so eine Leiche bin, will ich glücklich und zufrieden sein oder so ähnlich."

Alltag ist Routine. Alltag ist Wiederholung. Alltag ist Zyklus, Beruhigung – Sicherheit: Man geht seinen Aufgaben nach, verlässt die Wohnung, kehrt abends heim, alles hat seine Ordnung. Aber was, wenn diese Ordnung durch zunächst winzige Details Irritationen erfährt? Was geschieht, wenn der Alltag bedroht wird? Was löst eine solche Bedrohung aus?

Was macht man als gescheiterter Elektrofachverkäufer, wenn man im Jahr 2014 aus Versehen 2500 Tapedecks geordert hat? Bei Carl-Christian Elze ist die Lösung kreativ: Man bricht in die Wohnungen seiner Nachbarn ein und hinterlässt eine Kassette auf dem Nachttisch. Wer die dann hören will, kauft sich ein Abspielgerät. Klingt albern? Ist es auch, so wie nahezu jede der 16 hintersinnigen „Aufzeichnungen eines albernen Menschen“. Sie tragen harmlose Einwort-Überschriften, heißen „Großmütter“, „Gehirn“, „Enten“ und nur einmal: „Geist oder der Bauer zu Nathal“. Dahinter stecken oft absurde Dramen. Ein Junge berichtet in täglich abgeschickten Postkarten und Briefen vom Urlaub am Scharmützelsee 1984: „Lieber Vati, liebe Mutti und liebe Katja! […] Unser Gruppenleiter Uwe (Herr Rommel) ist sehr für Ordnung und es gibt öfters Schimpfe“. Dummerweise hat Herr Rommel kein Verständnis für Schwächen und so wrackt der arme Junge immer mehr ab. Jede Karte klingt leidender, die Schmerzen des Jungen nehmen zu. Er hat Ohrgeräusche, steht kurz vorm Kollaps. Darf man das noch albern nennen? Ist es Schabernack? Es ist mindestens ebenso Schabernack wie die Idee, einen gegenüber wohnenden Romanautor mit gefakten Liebesbriefen aus dem Haus zu locken (der Neid des armen Dichters auf den gut genährten Prosaisten). Auch ist es ebenso schockierend wie albern, wenn im Schulaufsatz die Sätze stehen: „Der Egoismus eines Kindes ist unermesslich. Er stürzt sich wie ein Greifvogel auf alle Eltern und muss beizeiten gezüchtigt werden – im Interesse der Menschheit. Ein Kind darf nicht glauben, es sei allein auf der Welt und die Interessen der Eltern existierten nicht oder die Interessen der Eltern dienen nur einem einzigen Zweck, nämlich den Interessen des Kindes zu dienen. So weit darf es nicht kommen, dass Kinder ihre Eltern quälen und nie zufrieden sind.“ Die Geschichten sind immer Übertreibungen, aber dann doch nicht zu weit weg vom Wahnsinn der Gegenwart. Da versucht ein Hilfsbestatter, seinen Pleitebetrieb zu retten, indem „unser Bestattungshaus das erste Bestattungshaus sein wird, was sich vertraglich dazu verpflichtet, zurückgebliebene Haustiere bis zu ihrem natürlichen Ende zu pflegen und dann ebenfalls zu bestatten“. Die Kinderlandverschickungsaktionen der 70er und 80er Jahre waren in der Tat fürchterlich. Über den angeblichen Egoismus der verzogenen Kinder wird weiterhin auf Titelseiten berichtet. Tierbestatter gibt es längst. Deshalb besteht dieses Buch nicht nur aus „Aufzeichnungen eines albernen Menschen“, sondern ist auch eine Reportage aus einer alberern Welt. — Jan Drees (WDR1)

Da stimmt etwas nicht, denkt der Leser und findet sich unversehens in der seltsamen Situation eines Zuschauers, der eine Gefahr mehr ahnt, als dass er sie sieht, die dem auf der Bühne Sprechenden anscheinend vollständig verborgen bleibt. Eines Zuschauers, um einen Vergleich zu versuchen, der sich fühlt, wie ein Kind im Puppentheater: Mögen die Figuren durch die reduzierte Mimik und ihre ruckhaften Bewegungen noch so irreal erscheinen, wenn das Krokodil den Vorhang im Hintergrund zum Wackeln bringt, will man ihnen doch eine Warnung zurufen. Unfälle, Gewaltverbrechen, Katastrophen mag man hinter diesem Vorhang vermuten, während die Figuren im Vordergrund von Spaziergängen, Sportveranstaltungen im Ferienlager, vom Schlittschuhlaufen oder der sinnvollen Einrichtung eines Bauernhauses plaudern, und wir beunruhigt auf den Sitzen herumrutschen. Häufig hören wir in den Stücken zwei Stimmen, die des Erzählers und eine zweite, vermittelt durch eine Aufnahme, einen Brief oder ein berichtetes Gespräch. Und dabei experimentiert Elze geschickt mit einem geradezu spätromantischen Motiv: dem des Doppelgängers. Er spielt dieses Motiv souverän in allerlei Facetten durch, sei es, dass Leser und Autor des Briefes in „Brief“ sich am Ende als dieselbe Person herausstellen (thou art the man haben wir Zuschauer ihm natürlich schon längst zurufen wollen), sei es in der klassischen Jekyll and Hyde-Version in „Mutter“, in den beiden einander gegenübergestellten Biographien (oder sind es am Ende doch nur zwei Entwürfe derselben Biographie?) in „Geld“, den beiden durch eine Scheibe getrennten – oder in einer Scheibe gespiegelten – Autoren in „Nachbar“, in den beiden expressionistischen Dichtern Ernst Balcke und Georg Heym, die dasselbe traurige Schicksal erleiden und doch so unterschiedliche Nachleben haben, oder, umgedreht, in dem in zwei ganz unterschiedlich schreibende Ichs gespaltenen Ich in „Lagerleben“, und am Ende scheint keines der beiden das echte zu sein. – Wie es Elze gelingt, den Leser als Zuschauer immer wieder über das Plaudern und Schwadronieren im Vordergrund hinweg gebannt durch den Vorhang hinter der Bühne starren zu lassen, wie er uns allmählich in den Sog einer nur ahnbar absurden oder bedrohlichen zweiten Wirklichkeit zieht, will ich nicht weiter zu beschreiben versuchen. Man sollte es sich nicht entgehen lassen, sich diesen Texten auszusetzen. — Dirk Uwe Hansen (fixpoetry)

„Immer beim Öffnen der Tür wehen Schwaden von Schweineluft mit herein, so gewaltig, als hinge das ganze Schwein mit in der Luft“, heißt es in einem kurzen, nur zwei Seiten langen
Text über einen Geist, dem ein Bauernhaus hergerichtet wird für seine Bedürfnisse. Doch wenn er vom „allergrößten Spuk“ erschöpft ist, nutzt er die nahegelegene Autobahn, „um anderswo weniger anstrengend zu spuken“. So geht auch er, der Autor, in fremden Köpfen um, kehrt zurück, lässt sich nieder. Und erzählt. Man kann nie sicher sein, was sich tatsächlich zugetragen hat und was nur so gewesen sein könnte, weil ein Geist auf Reisen manches träumt. Dies ist eine Gegenwartsprosa auch in dem Sinn, dass sie in der Gegenwart des Lesers, in dessen Beisein sozusagen, zu entstehen scheint. — Janina Fleischer (LVZ, 4. Juni 2014)