Oda und der ausgestopfte Vater

Einen großen Teil seiner Kindheit verbrachte der Leipziger Schriftsteller Carl-Christian Elze im Leipziger Zoo, wo sein Vater Professor Karl Elze von 1957 bis Anfang der neunziger Jahre Zootierarzt war.

Dieses Buch vereint die 13 Folgen der »Zoogeschichten« , die das Leipziger Stadtmagazin »kreuzer« von März 2017 bis März 2018 monatlich abdruckte. Es handelt sich um autobiografische Prosaminiaturen, die ein Panorama des alten Leipziger Zoos ergeben. Der poetische Blick des Kindes, das der Autor einmal war, kommt hier, reflektiert vom erwachsenen Dichter, zu schöner Geltung. Carl-Christian Elze, der schon mehrere Gedichtbände veröffentlichte, legt damit seine zweite Prosasammlung vor. Neben weiteren Texten, die nicht im »kreuzer« erschienen sind, enthält das Buch eine Vielzahl von Bilddokumenten aus dem Privatarchiv des Autors.

In den „Zoogeschichten“ von Carl-Christian Elze, dem Sohn des ehemaligen Leipziger Zootierarztes Karl Elze, ist zu lesen, dass er sich immer wieder aufs Neue dort Meerschweinchen aussuchen durfte, und einmal durften das sogar auch alle seine Geburtstagsgäste. Normalerweise wurden die Tiere an Reptilien und Raubkatzen verfüttert. Den von ihm geretteten Meerschweinchen widmet er in seinem Buch mehrere Kapitel. Wenn sie starben, bekam er ihr Fell oder sie wurden sogar ausgestopft und kamen auf ein Regal in seinem Zimmer. Mit den Meerschweinchen, namentlich mit „Lissi 1, 2, 3 und 4“, begann seine „Prägung“ auf Tiere. Elze schrieb sogar ein Drehbuch für einen Kurzfilm über eine „Meerschweinchengeburt“. Es steht in seinem aktuellen Buch „Oda und der ausgestopfte Vater: Zoogeschichten“. — Helmut Höge (taz, Die Wahrheit, 13. August 2018)

Ein weiteres Katzenbuch, welches mir ein Freund jüngst aus Leipzig mitbrachte, ist die wunderbare Sammlung der Zoogeschichten von Carl-Christian Elze. Der Autor ist ein Sohn des langjährigen (von 1957 – Anfang der 90er Jahre) Tierarztes im Leipziger Zoo, Professor Karl Elze. Mit Humor und großer Leidenschaft für die Tiere beschreibt der Literat und Dichter seine Kindheit im Leipziger Zoo, flankiert von den schwarz-weiß Aufnahmen aller Familienmitglieder – vorwiegend mit den Großkatzen verschiedener Jahrzehnte in den Armen. Oda, die titelgebende und auf dem Cover abgebildete Löwin war die Lieblingslöwin des Vaters, sie schenkte in 13 Würfen 45 Löwenkindern das Leben und war stets als „Superamme“ im Einsatz, sogar für Tigerbabys. Heute befindet sich Oda als großes, sandfarbenes, ganz eigen riechendes Fell in der Wohnung des Autors – als einziges verbliebenes Fell einer ganzen Fellhöhle, wie er die Wohnung seiner Kindheit beschreibt. Carl-Christian Elze: „An dieser Stelle fällt mir ein, dass ich als Zehnjähriger meinen Vater einmal in meine Pläne einweihte, was ich mit ihm machen wolle, wenn er tot sei. Ich sagte ihm, dass ich ihn ausstopfen lassen würde, um ihn in der Wohnung aufzustellen. Es war eine Art Liebeserklärung und er verstand es sofort und lächelte. Dann wurden wir praktisch: Er fragte mich, wo genau ich ihn aufstellen würde, und ich überlegte eine Weile, weil ich noch nicht genügend darüber nachgedacht hatte. Schließlich kam meine Antwort: Im Flur – damit ich ihn beim Hereinkommen immer gleich sehen könne. Diese Antwort machte ihn zufrieden und glücklich, das war zu erkennen." Natürlich geht es im 170 Seiten umfassenden Buch nicht nur um Großkatzen, aber wir kommen immer wieder auf sie zurück. Wenn über den „ eines Elefanten berichtet wurde oder über die spektakulären Kotabgänge der Flusspferde, erzählt Elze von der „Leipziger Löwenfabrik“, sehen wir die berühmte Löwen-Dompteuse Claire Heliot oder den kleinen Karl Elze mit einem Kätzchen auf dem elterlichen Bauernhof. Kritik an Zootierhaltung sowie die Einordnung (der Weltanschauung) des vorliegenden Bandes unternimmt der Ex-taz-Redakteur und Tierfreund Helmut Höge im Nachwort. Seinen Vater ließ Carl-Christian Elze nach dessen Tod nicht ausstopfen, sondern legte „anstelle von ihm das Fell von Oda in den Flur [seiner] neuen Wohnung. – Es dauerte nicht lange, und ich hatte das Gefühl, dass sich jemand freute.“ — Anne Hahn (Literatenfunk, 11. Mai 2018)

Während sein Vater, der Leipziger Zoo- und Zirkustierarzt, mit der Zirkusdirektorin Frieda Sembach-Krone in ihrem Wohnwagen saß und „Zirkusschnaps“ trank, wurde es seinem Sohn, Carl-Christian Elze, langweilig, wie er in seinem Buch „Zoogeschichten“ (2018) schreibt, und so traute er sich zu fragen, ob er rausgehen könne zu den Tieren. Aber natürlich, sagte Frau Sembach-Krone, und sein Vater rief ihm hinterher: „Aber steck nicht irgendwo deine Finger rein, verstanden!“ Natürlich nicht, antwortete er. Vor einem Käfig mit einem schlafenden Tiger, „der besonders dicht am Gitter lag“, blieb er stehen. „‚Aber steck nicht irgendwo deine Finger rein, verstanden!‘, hörte ich meinen Vater wieder rufen. Ich hatte es gar nicht vorgehabt, aber gleichzeitig spürte ich einen allerersten Reiz, genau dies zu tun. Es wäre das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen ausgewachsenen Tiger berührte und nicht nur ein Tigerbaby, dachte ich. Tigerbabys berühren konnte schließlich jeder. Und trotzdem war ich noch lange nicht so weit, es wirklich zu tun.“ Er dachte an eine seiner Lieblingsgeschichten – von seiner Mutter: „Sie hatte meinen Vater kurz vor meiner Geburt in einen russischen Zirkus begleitet, wo es ein Walross gab, das in einem Käfig lag. Das Walross hatte genau am Gitter gelegen und geschlafen, so wie jetzt der Tiger vor mir. Meine schwangere Mutter war näher herangegangen und hatte plötzlich den gewaltigen und unabschüttelbaren Wunsch verspürt, zu erfahren, wie sich ein Walross anfühlt.“ Sie steckte ihre Hand durch das Gitter. „Nur ganz kurz wollte sie das Walross berühren, nur ein einziges Mal, wie sie später immer wieder betonte.“ Aber was passierte? Auf einen Schlag warf sich das über tausend Kilo schwere Tier, das von ihr erschreckt worden war, komplett herum und seine Stoßzähne sausten durch das Gitter. „Meine Mutter zog ihre Hand augenblicklich zurück und trotzdem hatte einer der Stoßzähne den Ärmel ihres Strickkleides durchbohrt.“ Sonst war zum Glück nichts weiter passiert. „Auf meine über die Jahre hinweg immer wieder gestellte Frage, wie sich das Walross denn nun angefühlt habe, antwortete sie stets das Gleiche, als ob sie immer noch im Schockzustand wäre: ‚Ich weiß es nicht mehr, es ging alles so schnell.‘“ Ihr Sohn wollte es unbedingt geschickter anstellen: „Ich wollte den Tiger, der mit dem Rücken zu mir lag, auf keinen Fall erschrecken. Ich entschloss mich, den Tiger zunächst einmal zu wecken beziehungsweise anzusprechen. Natürlich in Tigersprache. Eine Sprache, die ich ein bisschen von meinem Vater gelernt hatte.“ Carl-Christian ging näher an den Käfig heran und tatsächlich reagierte der Tiger darauf. Er erhob sich, drehte sich langsam herum und berührte mit seinem „großen und wunderschönen Kopf die Gitter. Er schaute mir direkt in die Augen. Ich hoffte inständig, dass ich keine Zisch-und-Gurr-Beleidigungen ausgesprochen hatte, aber er schien nicht gereizt zu sein, er sah nur verwundert aus. Ich hob meinen rechten Arm und hielt den flachen Handteller in einigem Abstand vor das Gitter, dabei zischte und gurrte ich weiter.“ Der Tiger drückte seinen Kopf fester gegen die Gitterstäbe und seine rosafarbene Nase schob sich ein Stück zwischen zwei Stäben hindurch. Nur die Tigernase ragte ein wenig aus dem Käfig heraus, das ganze Maul aber passte nicht hindurch. „Ich hielt meine Hand noch etwas dichter vor das Gitter und wartete ab, ob der Tiger vielleicht doch noch zuschnappen würde, aber er tat es nicht. Es schien sogar so, als ob er meine Hand gar nicht wahrnähme – er blickte mir noch immer in die Augen. Und plötzlich, ich weiß nicht, wie, lag meine Hand auf seiner feuchten Nase.“ Carl-Christian durchzuckte ein ungeheures Glücksgefühl. Ein Gefühl, das sich weiter steigerte, als der Tiger auf einmal seine Zunge herausfuhr und seine Hand zu lecken begann. „Es war eine große raue Zunge, die mich ausgiebig, geradezu genüsslich, leckte. Als ob mich eine riesige Hauskatze putzen würde. Und das Verrückteste war, meine Finger begannen irgendwann mit dieser Zunge zu spielen.“ Alles an ihm wurde mutiger. Er berührte den felligen Nasenrücken des Tigers und bemerkte erst später, dass sein Arm ein ganzes Stück in den Käfig hineinragte. „Trotzdem streichelte ich weiter und berührte den Tiger auch an der Stirn und an den Wangen. Er schnurrte. Ich war wie in Trance. Als ob er mich hypnotisiert hätte. Und auch jetzt noch, wo ich mich erinnere, bin ich wieder seltsam abwesend.“ — Helmut Höge (taz, Die Wahrheit, 30. April 2018)